Max-Weber-Schule Gießen
Im Rahmen einer so kurzen Vorstellung kann das vielseitige wissenschaftliche Werk Max Webers natürlich nur mit einigen wegweisenden Aussagen aus verschiedenen wissenschaftlichen Teildisziplinen, mit denen sich Max Weber beschäftigte, angedeutet werden.
Max Weber gilt nicht nur als der Begründer der deutschen Soziologie, er stellte als erster mit „Wirtschaft und Gesellschaft“ ein umfassendes, integriertes Werk zur Nationalökonomie und Gesellschaftslehre vor.
Mit dem Postulat der Wertfreiheit beeinflusste er maßgeblich die wissenschaftstheoretische Diskussion bis in die „Frankfurter Schule“ der sechziger Jahre. Des Weiteren lagen seine Betätigungsfelder auf den Gebieten der Religionswissenschaft/Ethik, der Politik und Musikwissenschaft.
Er galt als stimmgewaltiger und äußerst redegewandter Hochschullehrer und Politiker mit einer besonderen Ausstrahlungskraft. Bereits mit 29 Jahren trat er eine außerordentliche Professur für Römisches Recht und Handelsrecht in Berlin an, ein Jahr später erhielt er einen Ruf an die Universität Freiburg als Professor für Nationalökonomie. Was seine wissenschaftlichen Betätigungsfelder betrifft, hätte er ebenso eine Professur für Philosophie, Geschichte, Politologie, Musikwissenschaft, besonders aber Religionswissenschaft erhalten können.
Einer seiner leitenden Gedanken bestand darin, dass die protestantische Ethik in den späteren westlichen Industrieländem einen Rationalismus hervorgerufen hat, der alle Lebensbereiche erfasste, u.a. auch die persönliche „Lebensführung“ effektivierte und eine Welle von Rationalisierungen in der Wirtschaft auslöste.
Dabei sah Weber die Folgen dieser Entwicklung ambivalent: Einerseits gelingt der „okzidentalen“ Gesellschaft aufgrund der Tugenden ihrer Individuen im Gegensatz zu anderen Religions- und Kulturbereichen ein enormer Entwicklungsschub (u.a. im Lebensstandard), andererseits „emanzipiert“ sich der hierdurch ausgelöste Kapitalismus bald von seinen ethischen Wurzeln und führt über eine verselbständigte technologisch-industrielle Entwicklung zu einer Form von Herrschaft, die für die Individuen eine „dumpfe Gewöhnung“ an die so geschaffenen Normen bedeutet. Es entsteht wiederum eine irrationale Lebensführung, „bei welcher der Mensch für sein Geschäft da ist, nicht umgekehrt“ (Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, S. 54). Auf dieser Position begründet Marcuse später seine Theorie vom eindimensionalen Menschen.
Max Webers Staatslehre stützt sich auf eine subjektivistische Sichtweise von Herrschaft und Legitimität: Herrschaft (als „Chance, für einen Befehl bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“) lässt sich auf drei Arten legitimieren: a) rational durch den Glauben an die „Legitimität gesatzter Ordnungen“, b) traditional durch den Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Tradition und c) charismatisch durch die „Hingabe an die … Vorbildlichkeit einer Person“ (Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. I, S. 124).
Dabei ist wichtig, dass der subjektive Legitimierungsgedanke der Beherrschten sich am „Prestige“ der politisch Herrschenden entzündet. Bewährt sich die politische Führung im Kampf um angebbare letzte Werte, so hat sie die übrige Bevölkerung hinter sich, falls nicht, so kann staatliche Herrschaft in bürokratischer (rationaler) Verwaltung erstarren. Die besondere Kunst, die Massen wertrational zu motivieren und damit ihren Legitimitätsglauben wachzurufen, ist nach Max Weber das Merkmal charismatischer politischer Führung.
Es wäre jedoch völlig verfehlt, Max Weber als Verfechter autokratischer Systeme oder sogar als gedanklichen Wegbereiter des späteren Nationalsozialismus (Mommsen) ansehen zu wollen. Erst die Parlamentarisierung des bürokratischen Staates – sozusagen die „harte Schule der Demokratie“ – ermöglicht eine wirksame Auslese charismatischer Führungspersönlichkeiten und eine öffentliche Diskussion ihrer wertrationalen und ethischen Motive.
Beeindruckend sind Webers Überlegungen, in welcher Weise die unaufhaltsame Rationalisierung als Transformation des ursprünglichen puritanischen Geistes, der anfänglich den Kapitalismus prägte, sowohl im wirtschaftlichen als auch im staatlichen Bereich eine sinnentleerte Bürokratie, ein unentrinnbares „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“ (Gesammelte politische Schriften, S. 332) erzeugt. Fast ohnmächtig, aber weitblickend sah er die Folgen der (puritanisch-asketisch ausgelösten) Rationalisierung darin, dass sie dabei half, „jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundenen Wirtschaftsordnung zu erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden – nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen -, mit überwältigendem Zwange bestimmt – und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist“ (Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, S. 203).
Weber lässt sich von keiner gesellschaftspolitischen Strömung vereinnahmen, auch wenn er sich noch 1919 dazu entschließt, für die mit Friedrich Naumann gemeinsam gegründete „Deutsche Demokratische Partei“ an aussichtsloser Stelle für den Reichstag zu kandidieren. Er sah weder bei den konservativen „Junkern“ noch bei den Sozialisten Ansätze für eine Aufhebung des „Gehäuses der Hörigkeit“. Entschieden wies er deshalb sozialistische und syndikalistische Konzepte zurück, (während er seine Kritik gegenüber der Sozialdemokratie deutlich zurückhaltender formulierte.)
Veränderungsmöglichkeiten sah Max Weber durch die Stärkung einer (wert-neutralen) kritisch- experimentellen Wissenschaft sowie einer sicheren parlamentarischen Kontrolle über die Bürokratien. Dabei entwickelte Weber die noch heute gültige Konzeption, nach der die Verwaltung gegenüber dem Parlament rechenschaftspflichtig ist. Während die Wissenschaft eine „Flucht nach vorn“ antreten sollte anstatt zu „desertieren“, sei es Aufgabe der Politik (des Parlamentarismus), über die Einschränkung des Bürokratismus auch „ethische Erfolge“ zu erzielen (Gesammelte politische Schriften, S. 308).
Max Weber stand auch persönlich dafür, die Wissenschaft und die Politik in dieser Hinsicht als „Berufe“ anzusehen. „Sein Dasein war eine Ermutigung für alle, die ohne Illusionen in die Zukunft schreiten, tätig, solange es vergönnt ist, hoffend, solange nicht alles verloren ist“ (Karl Jaspers: Max Weber, S. 9).
Dr. Reinhard Kwetkus, Festschrift Max-Weber-Schule Gießen, 100 Jahre kaufmännische Schule in Gießen 1893 – 1993, 1993